„Wie es bleibt, ist es nicht.“

Zum Tode des Dramatikers Heiner Müller

Am 30.12.1995 starb kurz vor seinem 67. Geburtstag der wohl bedeutendste zeitgenössische deutschsprachige Dramatiker und Autor Heiner Müller.

Geboren am 9. Januar 1929 im sächsischen Eppendorf schrieb Müller 1961 das Stück „Die Umsiedlerin“, in dem die Probleme der Kollektivierung der Landwirtschaft in der frühen DDR thematisiert werden. Ganz in der Tradition seines Lehrers Brecht und des Sozialistischen Realismus gerieten das Stück und sein Autor jedoch schon während der Proben unter das Verdikt der „Linksabweichung“ und damit in das Visier der SED-„Kulturschützer“. Das Stück wurde sofort nach der Uraufführung abgesetzt und Müller aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Seine Stücke waren fortan in der DDR verboten, er selbst geduldete persona non grata. Dennoch blieb Müller in der DDR, die kapitalistische BRD war für ihn nie eine Alternative. Die frühe Abkanzelung vom Kulturleben der DDR wird aber seinen – letztlich der Menschlichkeit verbunden bleibenden – Pessimismus und Zynismus befördert haben. Müller war zurückgeworfen auf die Rolle des Beobachters, und er selbst formulierte, er habe die DDR als „Material“ begriffen. Selbst Stasi-Vorwürfe, die nach der „Wende“ auch gegen ihn laut wurden, kommentierte er stets so, daß ihn der schizophrene und paranoide Apparat als Material für seine literarische Produktion fasziniert habe. Ihn interessierte der Widerspruch zwischen dem Anspruch der Befreiung des Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung und der Realität einer den Menschen wieder zum Objekt machenden Staatsmaschinerie. Daß seine Stücke verboten wurden, begriff er als Wertschätzung: „Das Theater im Westen hat den Freiraum, nach Belieben zu agieren, weil es keine gesellschaftliche Wirkung haben kann. Das Theater im Osten hat einen solchen Freiraum nicht, weil die Gefahr besteht, daß Stücke Wirkung haben.“

Nach weiteren Stücken aus der „sozialistischen Produktion“ wie „Der Lohndrücker“, „Traktor“ und „Der Bau“ setzte sich Müller in den 70er Jahren in seinem Stück „Mauser“ mit der ihn prägenden Tradition der Lehrstücke Brechts, insbesondere dessen „Die Maßnahme“, auseinander. Brechts radikalen Geschichtsoptimismus konnte er angesichts des sichtbar werdenden Scheiterns des sozialistischen Experiments DDR nicht mehr teilen. Zynisch kommentiert „Mauser“ die „Unterdrückung, um die Unterdrückung zu beseitigen“, mit dem Satz: „Das Gras noch müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt.“ Dennoch ist dieser Zynismus bei Müller geprägt von der dialektischen Hoffnung, daß die kommunistische Utopie ihren Geist und ihre Geschichtsmächtigkeit erst im Scheitern erweisen werde. In einem Interview charakterisierte er diese Hoffnung so: „Darum geht es bei der Trennung der Kommunisten von der Macht – um die Emigration in den Traum. Dadurch wird eine Idee wieder eine Macht. (...) Nur dürfen solche Utopien nicht realisierbar sein, daher kommt ihre Kraft.“ Brechts Satz „Wie es ist, bleibt es nicht“ verkehrte er orakelnd: „Wie es bleibt, ist es nicht.“

In den 80er Jahren wurde Müllers innere Emigration durch zunehmendes Interesse an seinen Stücken im Westen durchbrochen. Innerhalb weniger Jahre avancierte er nicht nur im deutschsprachigen „kapitalistischen Ausland“ zum meistgespielten zeitgenössischen Stückeschreiber. Und auch die in den letzten Zügen liegende DDR überhäufte ihn nun mit Preisen und Anerkennung. 1986 erhielt er den Nationalpreis 1. Klasse, und 1988 wurde er wieder in den Schriftstellerverband aufgenommen. Müller nahm diese Vereinnahmungsversuche von Ost und West belustigt zur Kenntnis, sie bedeuteten ihm nichts. Darauf angesprochen schwieg er entweder, oder gab eine gruselige Anekdote zum besten, stieß eine Qualmwolke aus der ständig glimmenden Zigarre hervor und nahm einen Schluck aus dem bei Interviews ebenso allgegenwärtigen Whiskyglas.

Müller blieb sich und seinem bestimmenden Thema, der „Veröffentlichung des Sterbens“, treu. Schon vor dem Aus der DDR hatte er sich einer in der deutschsprachigen Dramatik singulären Verbindung von Antike, Shakespeare-Versatzstücken und Erinnerungsarbeit zugewandt, der prominenteste Vertreter dieser Werkepoche ist die „Hamletmaschine“. Darin, für Müllers hoffend-pessimistisches Verhältnis auch zu seiner eigenen Person geradezu symptomatisch, wird auf offener Bühne ein Porträt des Autors zerrissen. Wie in aller großen Literatur begann der Autor, hinter seinem Werk zu verschwinden.

Mit der „Wende“ begann für Müller zunächst eine Zeit des Schweigens. Auf Politik mochte er sich nach einem letzten Versuch einer von den meisten völlig unverstandenen Rede bei der Massendemonstration am 4.11.1989 auf dem Berliner Alexanderplatz nicht mehr einlassen. Er begriff seine Rolle nun noch mehr als die des kritischen Beobachters am Rande: „Wenn die Intellektuellen ins Zentrum drängen, verlieren sie die Kraft zur Veränderung. Sie müssen am Rand bleiben, am Rand arbeiten. Vom Zentrum aus kann man nichts mehr bewegen. Ins Zentrum gehören die Beamten. Die Intellektuellen müssen raus aus der Politik. Da verlieren sie ihre Kraft.“ Seine Texte waren ihm von nun an Flaschenpost, „einsame Texte, die auf Geschichte warten“. Dieses Diktum klingt larmoyant. Doch für Müller war diese Situation einer erneuten Emigration in den Text die einzig wirkliche Hoffnung auf Veränderung. Nach der „Wende“ erhielten seine stets brillanten Äußerungen zur Tagespolitik kassandrischen Charakter. In seinen letzten Jahren, in denen er kaum noch schrieb, sondern am Berliner Ensemble, ab 1992 als dessen Intendant, seine Stücke selbst inszenierte, um sie dem „deutschen Tiefsinn“ und der landläufigen Vorstellung, „man müsse im Theater etwas verstehen“, zu entziehen, wurde Heiner Müller zu dem leisen aber bestimmten Mahner, dem Wissenden, „wie ein Untergang dem nächsten rät“ (Alexander Kluge), als der er in einer Erinnerung bleiben wird, die weiß, daß er unersetzlich ist. (jm)